"Erster Stammtisch für MitGestalter" hieß es. Ein Facebook-Event war es. Vorgestern abend. In "Raum 158 in der Volkshochschule Bremerhaven". Angelegt von der Facebook-Gruppe "Mein Traum für Bremerhaven". Thema: "Was ist in der Sommerpause passiert? Gedanken austauschen und weiterplanen. Wie steht es um die Freiwilligenagentur für Bremerhaven?". Ich hatte da (also bei Facebook) auf "Maybe Attending" geklickt und war tatsächlich hin. Ich war neugierig.
Mein Traum für Bremerhaven? Freiwilligenagentur? Was'n das? Ich wusste es auch nicht und habe erst hinterher (nämlich gerade eben) gegoogelt. Der Nordseezeitung entnehme ich den folgenden Pressetext:
"Das Interesse‚ sich für andere Menschen einzusetzen, nimmt unter Studenten laut einer Studie des Hochschulinformationssystems immer mehr ab. Nicht so in Bremerhaven. Sechs junge Studentinnen der Hochschule haben es sich im Rahmen einer Projektarbeit in ihrem Studiengang Cruise Industry Management (CIM) zur Aufgabe gemacht, ihren Kommilitonen und der Hochschule ehrenamtliches soziales Engagement näher zu bringen. Die Gruppe [...] hat einen Wahlpflichtkursus an der Hochschule ins Leben gerufen, der den Studenten auf Eigeninitiative einen Einblick in die soziale Arbeit der Stadt Bremerhaven gewährt. [...] „Unser Ziel ist es, den Studenten soziales Engagement nahe zu bringen und die Zusammenarbeit mit wohltätigen Vereinen und Institutionen zu fördern.“ [...] Am Freitag, 7. Mai, um 16:30 Uhr findet in den Räumlichkeiten des Schiffahrtsmuseums eine Veranstaltung unter dem Motto: „Blick in die Zukunft: Mein Traum für Bremerhaven“ statt."
Desweiteren finde ich auf der Webseite "Mein Traum für Bremerhaven" diesen Selbstdarstellungstext: "Wir blicken über den universitären Tellerrand und bieten Studenten die Chance sich trotz Zeitdruck in der Umgebung sozial zu engagieren. Denn besondere persönliche und soziale Kompetenzen gewinnen in Bezug auf das Arbeitsleben kontinuierlich an Bedeutung für zukünftige Absolventen. Ein neuartiges Wahlpflichtfach belohnt die Durchführung von Projekten in Zusammenarbeit mit lokalen sozialen Institutionen mit Credit Points."
Credit Points? Sind das kleine weiße Quader, mit denen man Wiesenpferdchen füttert, damit sie lieb wiehern? Egal. Es geht jedenfalls offenbar darum, Studierende in "soziale Institutionen" zu drücken, sprich kostenlose Arbeitskräfte in den verfilzten Institutionensumpf Bremerhavens zu pumpen. Und genau so fing die "MitGestalter-Stammtisch"-Veranstaltung vorgestern auch an: Eine Dame, die sich nicht vorgestellt hat, übernahm frontal die Runde und berichtete, dass eine gewisse Landesdeputation die Einrichtung einer "Freiwilligen-Agentur" beschließen wolle, und zwar als EU-Projekt mit einer "arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung". Es solle zwei hauptamtliche Stellen darin geben mit 700 Pflichtberatungen pro Jahr "konzentriert auf Studierende und Langzeitarbeitslose". Dazu werde es in zentraler Lage ein Ladengeschäft geben, angemietet durch das (behördliche) ArbeitsFörderungsZentrum, von dem aus dahingehend operiert werden solle, "mit anderen Organisationen" Netzwerke aufzubauen. Kurzum: Man will Geld aus der EU in die weitere Aufblähung des Bremerhavener Behördensumpfes investieren.
Im Verlauf des Abends hat sich dann herausgestellt, dass hier zwei Initiativen zusammengelaufen waren: Die Zuckerwürfel-geköderten Studenten mit ihrer Traumagentur einerseits und die Noch-eine-Behörde-mehr-Initiative andererseits. Man habe gemerkt, dass man so "dicht beieinander" sei, dass eine "gemeinsame Infrastruktur" quasi natürlicherweise aufzubauen sei. Schließlich solle es in dem Ladengeschäft "4 Arbeitsplätze" geben, von denen einer für Freiwillige (also ohne Bezahlung) reserviert sei. Daher also wehte der Wind. Über die "Mein Traum für Bremerhaven"-Geschichte der Hochschule sollten kostenlose Arbeitskräfte für die neue Behörde akquiriert werden, damit diese effektiver EU-Gelder abgreifen kann, um regionale Arbeitsplätze durch Verdrängung mit an andere Institutionen vermittelten unbezahlt Tätigen zu vernichten.
Richtig absurd wurde es, als dann ein Machtgerangel einsetzte, weil sich offenbar auch einige andere Teilnehmer der Runde versprochen hatten, kostenlose Arbeitskräfte für ihre Projekte abzugreifen. Und so wurde dann erstmal begrifflich sortiert: Es gebe zum einen den "Stammtisch" von "Mein Traum für Bremerhaven". Dieser sei "themenbefreit", die dortigen Diskussionen können "ein Hauch im Winde" sein und "müssen keine Folgen haben". Dann gebe es die Arbeitsgruppe "Plattform für freiwilliges Engagement" innerhalb des Traums für Bremerhaven, und es gebe Arbeitstreffen zur Organisation des Traums für Bremerhaven selber. Für das nächste Arbeitsgruppentreffen wurde munter geplant, dort die Verschmelzung mit dem Freiwilligenagentur-EU-Projekt zu hinterfragen, um mehr eigenen Einfluss zu haben; und für das nächste Orga-Arbeitstreffen wurde zu versuchen angestrebt, die Hochschule als ursprüngliche Träger-Institution von Mein Traum für Bremerhaven in einer "weiterlaufenden Koordination" dauerhaft zu installieren, um mit diesem Dach die Unabhängigkeit der Plattform für freiwilliges Engagement von der mit der ArbeitsFörderungsAgentur verzahnten behördlichen Freiwilligenagentur zu stärken. Das Spiel war also, Institutionen gegeneinander auszuspielen, um der eigenen zu nützen.
Es gab auch Teilnehmer in der Runde, die irrtümlich dachten, auf einer selbstorganisierten Veranstaltung von privat engagierten Bremerhavener Bürgern zu sein. Sie erkannten am Ende aber, dass sie sich gerne verarscht und komplett fehl am Platz vorkommen durften. Am traurigsten war der Blick der Studentin, die als einzige der ehemaligen sechs des ausgelaufenen Hochschulprojekts noch übrig war. Sie erkannte sichtlich, dass ihr Traum gescheitert war. Nur widerwillig übernahm sie die Aufgabe, zum geplanten Orga-Arbeitstreffen sich, die Runde und ihren Professor (!) einzuladen.
Ach ja, ein sympathischer alter Mann, der wiederholt "Agenda 21" zu sagen versuchte -- und jedesmal mit "wir sind unpolitisch!" niedergebrüllt wurde --, tat mir besonders leid. Ich kannte ihn von der Open-Space-Veranstaltung, mit der der Bremerhaven-Traum startete. Er war schon dort politisch unterwegs und erzählte mir dort von der Wichtigkeit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. (Dass ich selbst -- auch in Bremerhaven -- in dieser Angelegeheit aktiv unterwegs bin -- siehe z.B. meinen Bericht hier in diesem Blog --, kam bei ihm damals nicht so richtig an. Ich hoffe aber, dass ich in dem Alter auch noch so fit sein werde -- und ihn irgendwann noch mal wiedertreffe.) Immerhin hat er mich dazu gebracht, mal nach "Agenda 21" zu googeln. Die Wikipedia sagt: "Die Agenda 21 wird von allen politischen Lagern kritisiert. Hauptkritikpunkte sind das Auseinanderklaffen von Vision und Wirklichkeit, mangelnde Transparenz bei den Agendazielen und dem Umsetzungsprozess, Verwendung von mehrdeutigen Modewörtern, fehlende demokratische Prozesse, Zusammenarbeit mit Großkonzernen, Befürwortung der Atom- und Gentechnik sowie der Globalisierung, und das Festhalten an der 'Wachstumsideologie'." Klingt interessant.
Sowas hätte ich gerne diskutiert -- wie auch alles andere Politische. Denn die Vision der Studentinnen hinter Mein Traum für Bremerhaven war eine der hochpolitischsten Ideen, die ich in den letzten Jahren in Bremerhaven wahrgenommen habe. Leider wurde auch sie nun vom Bremerhavener Sumpf erstickt und ist im neoliberalen Druck unserer Zeit ertrunken. DAS ist NICHT MEIN Traum für Bremerhaven!
Tag #686: Die Würde des Menschen
-
Kurzfassung : Heute beginnt die 3. Internationale Woche des Grundeinkommens. In Bremen haben zwei Gr…
-
20 Sep 2010
Tag #644-2: Holons
-
"Der Begriff Holon wurde von Arthur Koestler geprägt und bedeutet ein Ganzes, das Teil eines anderen…
-
08 Aug 2010
See all articles...
Keywords
Authorizations, license
-
Visible by: Everyone (public). -
All rights reserved
-
727 visits
Tag #668: Kein Traum für Bremerhaven
Jump to top
RSS feed- Latest comments - Subscribe to the feed of comments related to this post
- ipernity © 2007-2025
- Help & Contact
|
Club news
|
About ipernity
|
History |
ipernity Club & Prices |
Guide of good conduct
Donate | Group guidelines | Privacy policy | Terms of use | Statutes | In memoria -
Facebook
Twitter
Sign-in to write a comment.