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Peter Wittstadt


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Schneewittchen (1)

Schneewittchen (1)
von Peter Wittstadt

Karl Hartwig Schütz has particularly liked this photo


Comments
 Thomas Lamp
Thomas Lamp club
Das Ur-Schneewittchen
Es war einmal, so muss es im Ur-Schneewittchen geheißen haben, ein bildschönes junges Mädchen, das auf dem Schloss seiner königlichen Eltern Glanz und Reichtum aufwuchs. Sein Haar war schwarz wie Ebenholz seine Wangen weiß wie Schnee und die Lippen so rot wie Blut, aber im tiefsten Herzen war es unglücklich, weil es bereits ahnte, dass all der Glanz und Reichtum des Hofes auf der Armut und der Ausbeutung der Bevölkerung beruhte.
Eines Tages traf auf seinem Ritt durch den Wald einen wild aussehenden bärtigen Jüngling. Es sprach ihn freundlich an und erfuhr, dass er zu den Partisanen gehörte, die sich die Befreiung des Volkes von Tyrannei und Ausbeutung zum Ziele gesetzt hatten. Zum Abschied schenkte ihr der Partisan ein kleines rotes Buch und bat, nur heimlich darin zu lesen und es niemanden sonst am Hof zu zeigen.
Als Schneewittchen, so hieß unsere junge Prinzessin, sieben Nächte in diesem Buch gelesen hatte, kannte sie es so gut wie auswendig, war von der Gerechtigkeit der Sache der Partisanen überzeugt. Als sie das nächste Mal in den Wald ritt, nahm sie heimlich eine Anzahl guter Waffen mit und ritt über die sieben Berge, bis ich zum Lager der Partisanen kam die sie begeistert aufnahmen, zumal sie nützliche Waffen mitbrachte. Die Kunde vom Übertritt der schönen Königstochter ins Lager der Partisanen verbreitete sich wie ein Steppenbrand im ganzen Königreich und führte den Freiheitskämpfern viele neue Anhänger zu.
Schließlich – nachdem mannigfaltige, hinterlistige Anschläge der königlichen Truppen abgeschlagen worden waren – stürmen die Partisanen das Schloss, stürzten die königliche Regierung und setzten eine revolutionäre Volksregierung ein, der Schneewittchen angehörte. Die böse Königin wurde wegen heimtückischer Anschläge auf die Volksarmee hingerichtet, der abgedankte König aber durfte noch viele Jahre in bescheidener Stellung seinem Volke dienen und wenigstens etwas von dem wieder gutzumachen, was es ihm angetan hatte (ähnlich wie der letzte Kaiser von Mandchukuo in unseren Tagen). In der revolutionären Volksregierung aber trat Schneewittchen für die Befreiung der Frau ein, und alle im Lande liebten und bewunderten es, und wenn es nicht gestorben ist, so lebt es heute noch.

So muss – auf die wesentlichen Züge reduziert – das Ur-Schneewittchen etwa ausgesehen haben. Die ängstlichen Bearbeiter aus dem kleinbürgerlichen oder kleinbäuerlichen Milieu, denen wir die von Grimm notierte Fassung verdanken, haben alles getan, um diese Urform unkenntlich zu machen: Aus dem freiwilligen, politisch motivierten Entschluss Schneewittchens machten sie dessen Verbannung vom Hof aufgrund eines privaten Racheaktes der eifersüchtigen Stiefmutter, die sonst in einer erbarmungslosen Schönheitskonkurrenz mit Schneewittchen unterliegen würde.

Aus den mutigen Partisanen hinter den sieben Bergen werden die sieben Zwerge, eine Modifikation, der man deutlich die Verharmlosung und Ridikülisierungs-Absicht anmerkt. Statt mit dem Partisanen-Kollektiv zu kämpfen, wird Schneewittchen die Rolle einer Hausgehilfin bei den zwergenhaften Junggesellen angegedichtet. Von den harten Klassenkämpfen bleiben als einzige Spuren die heimtückisch Vergiftungsversuche der verkleideten Stiefmutter übrig. Wiederum wird also das politische Geschehen ins Private umgedeutet.
Den Gipfel der Entstellung aber bildet das Happy-End mit dem plötzlich auftauchenden und standesgemäßen Bräutigam. Dass es sich dabei um eine glatte Fälschung handelt, wird an dem sichtlichen Verlegenheit der Zwerge und ihrer wenig glaubhaften Bereitschaft, sich von Schneewittchens Sarg, zu trennen, offenbar.
An einigen Stellen schimmert freilich noch immer das Ur-Schneewittchen durch: Unverfälscht ist die Solidarität der Rebellen ("Zwerge") untereinander und mit der jungen Partisanin und ihre Wachsamkeit gegenüber den Anschlägen des Klassenfeindes (der "Stiefmutter"). Auch ist begreiflich, dass Schneewittchen den Klassenfeind in der proletarischen Verkleidung (die als Kleinhändlerin und Apfelfrau verkleidete Königin) nicht erkennen konnte, weil ihm der sichere Klasseninstinkt fehlte, der die anderen Partisanen zweifellos zu sofortiger Entlarvung der verkleideten Königin befähigt hätte.
Geschickt nützt die heimtückische Reaktion (Königin) gerade die ethisch motivierte Liebe Schneewittchens zum einfachen Volk (Proletariat) aus, um es zu täuschen. Auch die Tatsache, dass sich die königliche Macht bei ihrem Kampf gegen die Partisanen heimtückischer Mittel (Verkleidung vergiftete Kämme und Nahrungsmittel usw.) bedient, dürfte als realistischer Zug dem Ur-Schneewittchen entnommen sein.
Das "Spieglein an der Wand" endlich, dass zuverlässig über alles Auskunft geben kann, was im Königreich passiert, könnte eine märchenhafte Allegorie der königlichen Geheimpolizei sein, die an allen Ecken und Enden ihre Späher und Spitzel unterhält. In diesem Fall ist die privatistische Umbiegung durch die Assoziation von Spiegel und "Unbestechlichkeit" besonders naheliegend und raffiniert. Die führende Rolle der Königin bei der Verfolgung der Partisanen dürfte übrigens durchaus der Realität entsprechen. Hat es doch noch in unseren Tagen (Madame Nhu!) ähnliche Verhaltensweisen gegeben.
Mir scheint, in diesem Fall darf man den Brüdern Grimm jedenfalls nicht allein in die Schuld an der Umarbeitung geben. Sie haben das Märchen vermutlich schon ängstlich deformierter Gestalt vorgefunden und das lediglich weiter harmonisiert und geglättet. So wurde aus dem Bericht über einen heroischen Volksaufstand eine banane Schnulze, die bereits nach dem bekannten Hollywood-Rezept der dreißiger Jahre arbeitet: "girl (or man) getting into trouble and out again".
Warum sollte das Volk eine solche banale Geschichte überliefert haben? Allenfalls um sich ein handfesteren Trost zu verschaffen, als ihm die Religion zu bieten vermochte. Wo jene nur mit der ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits winkt, da verspricht das Märchen schon hier der bösen Stiefmutter die verdiente Strafe und dem arglosen Schneewittchen das verdiente Glück. Das Märchen als Opium des Volkes? In seiner Urfassung war es sicher das Gegenteil!
Aus: Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Iring Fetscher, Komet, Frechen 2000.
2 weeks ago. Edited 2 weeks ago.

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