Nach Modellen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung betragen die Kosten des Klimawandels in Deutschland bis zum Jahr 2050 rund 800 Mrd. Euro, bis zum Jahr 2100 könnte der Betrag auf 3.000 Mrd. Euro ansteigen. Der Klimawandel kostet bereits jetzt weltweit rund 315.000 Menschen jährlich das Leben. Klimaschutzmaßahmen sind allerdings nicht möglich, da diese die Wirtschaft gefährden.
Die zusätzliche Mortalität durch Feinstaub liegt in Deutschland bei rund 40.000 bis 47.000 Todesfällen. Ein Drittel der Feinstaub-Emissionen verursacht der Verkehr. Fahrverbote sind allerdings nicht möglich, da sie die Freiheit der Bürger einschränken – und natürlich die Wirtschaft gefährden.
Die Mortalität als Folge des Rauchens liegt bei rund 120.000 Todesfällen in Deutschland – pro Jahr. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten des Rauchens in Deutschland liegen bei rund 80 Mrd. Euro. Mittlerweile gibt es Rauchverbote, aber wir erinnern uns: Die Einführung von Rauchverboten beschränkt die Freiheit der Bürger, und schlecht für die Wirtschaft sind Rauchverbote auch.
Ein Tempolimit auf Autobahnen würde die Anzahl der Verkehrstoten und den Schadstoffausstoß verringern. Allerdings kann ein Tempolimit nicht eingeführt werden wegen Menschenverstand, Freiheit und Wirtschaft.
Eigentlich ist klar, daß unsere Energiepolitik in der derzeitigen Form keine Zukunft hat. Selbst wenn die Emissionen keinerlei Klimaeffekte hätten, gibt es in absehbarer Zeit weder Erdöl/Erdgas, Kohle oder Uran. Sollte man nicht von einer klugen, vorausschauenden Politik erwarten, daß frühzeitig neue Technologien gefördert werden, um den unvermeidlichen Wechsel so wenig abrupt wie möglich zu gestalten und gleichzeitig der heimischen Wirtschaft Exportmöglichkeiten neuer Technologien zu ermöglichen? Naja, wenn da nicht die Freiheit der Bürger wäre, und sei es die Freiheit des Bürgers von Windrädern. Und außerdem geht es sowieso nicht wegen der Wirtschaft und weil Arbeitsplätze gefährdet werden.
Sind Politiker dumm oder gar bösartig?
Nein, sie wollen nur ihren Job behalten und deshalb tun sie das, was der Wähler will. Schließlich wissen wir alle, daß Verbote unsere Freiheitsrechte beschränken und außerdem schlecht für die Wirtschaft sind.
Ja, die Grundrechte sind mittlerweile tief in der deutschen Seele verankert, und ganz im Sinne von Artikel 20, Absatz 4, kämpfen wir erbittert gegen jeden, der es unternimmt, unsere Freiheitsrechte einzuschränken. Und natürlich für Wirtschaft und Arbeitsplätze.
Bis vor zwei Wochen.
Und auf einmal nehmen wir Einschränkungen und Verbote hin, die noch vor kurzem undenkbar waren. Die Politiker, die sie anordnen, steigen in der Wählergunst nach oben, steil sogar. Starke Männer sind beliebt. Die internationale Zusammenarbeit, die uns doch so wichtig erschien, sowohl nach den Erfahrungen eines verfeindeten und zerstörten Europas, als auch im Hinblick auf Handel und internationale Märkte, zerbröselt gerade. Überwunden geglaubte Grenzen und Reisebeschränkungen schießen wieder aus dem Boden, sogar innerhalb Deutschlands.
Wie kann es zu so einem abruptem Wandel kommen?
2. Erklärungsversuch
Ich würde jetzt ja gerne schreiben, daß die Menschen als homines rationales die Notwendigkeit der Einschränkungen einsehen und sie deshalb auf sich nehmen. Nur leider deutet vieles darauf hin, daß es sich dabei (übrigens genauso wie bei den unter 1 genannten Beispielen) weniger um ratio denn um emotio handelt.
Aber warum werden einige Themen besonders emotional verhandelt und andere nicht? Welche Faktoren beeinflussen die Emotionalität?
Diese Frage ist gar nicht so schwer zu beantworten, eine relativ einfache Formel hilft uns, emotional besetzte Themen zu erkennen.
Re bezeichnet dabei die emotionale Reaktion.
hS ist die zu erwartende Höhe eines Schadens (oder auch der Gewinn eines Ereignisses), pS die Wahrscheinlichkeit des Eintritts.
dst gibt die räumliche oder zeitliche Entfernung zum Ereignis an.
Dieser Bruch muss jedoch noch mit zwei Faktoren gewichtet werden, um brauchbare Ergebnisse zu liefern, dem Spektakularitätsfaktor sF und der medialen Frequenz mF.
Das sieht jetzt schlimmer aus, als es ist ;-)
Nehmen wir zur Vereinfachung mal an, die Eintrittswahrscheinlichkeit sei 100 % und lassen in China einen Sack Reis umfallen. hS ist klein, dst groß, wir reagieren also nicht.
Fällt der Sack Reis in unserer Küche um, wird dst also kleiner, steigt Re im Gegenzug an. Noch größer wird Re, wenn der Sack aus dem obersten Fach im Regal fällt (sF ist groß).
Und falls wir in der Woche vorher jeden Tag in der Zeitung von fallenden Reissäcken gelesen haben, laufen wir zum Nachbarn und berichten ihm, bei uns ist jetzt auch ein Sack gefallen.
Probiert es mit eigenen Beispielen aus, die Formel stimmt.
3. Ausblick
Wir haben jetzt erkannt, daß im Wettstreit zwischen Neocortex und limbischem System letzteres regelmäßig den Sieg davonträgt. Emotional lebt der Mensch immer noch in der Höhle, und er kämpft für seine Sippe, die mit ihm in der Höhle lebt. Draußen ist der Feind, der andere, der böse, und alles Neue ist von Übel.
Vernünftige Entscheidungen treffen wir viel seltener, als wir glauben. Gut sind wir aber in der ex-post-Rationalisierung unserer Entscheidungen. Wir finden immer Gründe, warum wir richtig handeln. Je mehr Informationen uns (nicht zuletzt dank der „neuen Medien“) zur Verfügung stehen, desto mehr scheinen wir uns gezielt die Informationen herauszupicken und taktisch anzuordnen, die unsere Meinung stützen. Skepsis und Kritik sind nur noch zwei Fremdwörter.
Ich könnte jetzt mit einem hoffnungsvollen Schluß enden, darauf hinweisen, daß uns eine Krise die Chance gibt, grundlegende Positionen zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu justieren. Ich könnte auf durchaus erkennbare Solidarität hinweisen und daran die Hoffnung knüpfen, daß der alte Affe seine Höhle langsam verläßt und erkennt, daß die Affen draußen im Grunde genau wie er sind.
Dazu sehe ich allerdings keinen Anlaß.
Im Zusammenhang mit den Protesten gegen den schnellen Brüter in Kalkar geriet mir damals ein Paper über "Risikoakzeptanz in der Bevölkerung" in die Hände. Ich habe es längst verklüngelt. Aber ich erinnere mich, dass ein Toter infolge eine Atomunfalls bundesweit mehr Aufregung verursachen würde als 10.000 Verkehrstote.
Bei Corona ist es leider nicht anders . . .
Was das Management der Pandemie durch die Politik anbelangt, so sieht man inzwischen, dass ziemlich viel ziemlich schlecht gelaufen ist. Zum Teil liegt das aber m.E. auch einfach daran, dass politische Entscheidungsprozesse in Demokratien oftmals behäbig verlaufen und für jede Maßnahme, die eine Gesetzesänderung erfordert, erst einmal Mehrheiten organisiert werden müssen. In diesem Prozess will dann jede Gruppe ihre eigenen Bedürfnisse berücksichtigt sehen. Und der deutsche Föderalismus ist in existenziellen Krisensituationen auch nicht unbedingt hilfreich. Heraus kommen dann Maßnahmen, die oft zu spät oder mit unzureichender Konsequenz ergriffen werden.
Das bedeutet nun nicht, dass es die undemokratischen Staaten alle besser gemacht hätten. Ein Staat wie China ist bei der Eindämmung der Pandemie aber vor allem deshalb erfolgreich, weil er mit Polizeistaatsmethoden von obern herab das gewünschte Verhalten der Bevölkerung erzwingen kann.
Zum Teil ist es aber sicherlich auch die kulturelle Prägung, die den Unterschied ausmacht. Demokratische Staaten wie Japan und Südkorea waren bisher ja auch sehr erfolgreich im Umgang mit der Pandemie. Bei uns wird z.B. teilweise der Datenschutz zu einem unantastbaren Grundrecht erhoben, was dann die Verfolgung von Infektionsketten erheblich erschwert. Solche Skrupel kennt man in Südkorea nicht.
Und damit sind wir mal wieder bei dem ebenfalls angesprochenen Thema "Risikoakzeptanz in der Bevölkerung": Mal angenommen, es wäre im Frühjahr 2020 nicht eine vollkommen dysfunktionale Corona App entwickelt worden, sonderen eine, bei der die Daten auf einem zentralen Server gespeichert werden und somit alle Möglichkeiten für die Datenauswertung zum Zwecke der Verfolgung von Infektionsketten gegeben sind. Wie groß wären wohl Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenhöhe durch eine nicht bestimmungsgemäße Verwendung der Daten gewesen? Oder anders gefragt: Welchen konkreten Nachteil hätte ich als einzelner Bürger dadurch mit welcher Wahrscheinlichkeit gehabt, wenn Daten von mir aus der Corona App für einen überschaubaren und im Voraus festgelegten Zeitraum zentral gespeichert worden wären?
Um es mit den Formeln von Boarischa Krautmo zu beantworten: Das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenhöhe wäre vermutlich irgendwo nahe bei Null gewesen. Bei einer zentralen Lösung wären vermutlich keine sensibleren Daten gespeichert worden, als heutzutage Millionen von Menschen ohenhin bereitwillig auf Servern von Google oder Facebook liegen lassen, nur dass das bei der Corona App unter strikter staatlicher Aufsicht und mit einer strikten zeitlichen Beschränkung hätte erfolgen können.
Stattdessen hat man sich aber trotzdem für die dysfunktionale Variante ohne zentrale Datenspeicherung entschieden und hat damit ein hohes Risiko für eine hohe Anzahl an Toten in Kauf genommen. Oder mit anderen Worten: Man hat sich für eine Variante entschieden, bei welcher das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe sehr hoch ist. Das Ergebnis sind hochgerechnet auf die Einwohnerzahl Deutschlands ca. 88.000 Tote mehr als in Südkorea. Von Schäden für die südkoreanische Bevölkerung aufgrund des geringeren Datenschutzniveaus ist mir hingegen nichts bekannt...
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