Mehr als nur seltsam kam Kommissar Manfred Lüttges die Wahl des Ortes vor, an dem Delamotte seinen Hunger stillen wollte. Nicht, dass Lüttges etwas gegen die Pause einzuwenden hatte. Eine schmackhafte Mahlzeit kam ihm durchaus gelegen, und Delamotte war bekannt als Genießer. Aber das Gebäude, vor dem sie standen, sah nicht gerade wie ein Gourmettempel aus. Der schmucklose Flachbau wirkte eher wie eine relativ kleine Lagerhalle, und passte damit perfekt zur Umgebung. Die Beyeler Straße erschloss im Süden von Reven seit jeher ein inzwischen in die Jahre gekommenes Gewerbegebiet. Auf dem Weg von der Anschlussstelle Beyel waren sie an Autohäusern, Baumärkten und Speditionen vorbeigekommen, und die schmale Straße, in die sie dann rechts abgebogen waren – sie hieß Narzissenweg, erinnerte sich Lüttges – bot dann unter anderem einer Kickbox-Schule, einem Alteisenhandel und einer Firma für Sicherheitstechnik eine eher graue Heimat. Ach ja, und einem Hindu-Tempel als farblicher Auflockerung.
Immerhin lag das Gebäude, dessen Leuchtreklame auf eine Madame Severine als Betreiberin hindeutete, in Sichtweite des Flusses, von dem es nur durch die Eisenbahnschienen und den Deich getrennt war. Weiter südlich erkannte Lüttges die Silhouetten der Beyeler Raffinerien – nein, ein Spitzenrestaurant konnte er hier definitiv nicht erwarten.
Delamotte war in der Zwischenzeit geschwinden Schrittes zum Eingang des Etablissements geeilt, und klopfte an die Tür. Es dauerte eine Zeit lang – eventuell wurden die beiden Männer erst einmal durch den Spion begutachtet. Dann flog die Tür auf, und eine resolute Blondine, die irgendwo zwischen Mitte Vierzig und Mitte Sechzig sein konnte, schloss Delamotte in ihre kräftigen Arme. Was sie sagte, verstand Lüttges nicht. Er hatte auf seinem Gymnasium am Niederrhein Englisch und Holländisch gelernt. Und selbst wenn er etwas Schulfranzösisch beherrscht hätte, wären ihm die Worte aus ihrem Mund unverständlich geblieben. Severine Welvaerts, geboren und aufgewachsen in Namur, sprach bevorzugt reines Wallonisch. Deutsch beherrschte sie, obschon mit spürbarem Akzent, auch: „Ich habe Marc schon gesagt, an Feiertagen koche ich nur für Familie und Freunde. Da gehört die Polizei natürlich dazu, also kommen sie nur rein.“
Madame Severine führte Delamotte und Lüttges durch das überraschend große und ziemlich verrauchte Lokal zu einem kleinen Tisch in der Ecke. „Hier können sie ungestört über ganz geheime Dinge reden“, sagte sie mit einem Zwinkern, und ging dann zum mütterlichen Ton über: „Was trinkt ihr Jungs?“
„Ein braunes Leffe, wie immer“, sagte Delamotte.
„Ist das ein Bier?“, wollte Lüttges wissen.
Delamotte nickte.
„Na, wenn es braun ist, nehme ich auch eins“, sagte der Kommissar, dem dunkles Bier aus seiner Heimat vertrauter war als das helle Gesöff, das in Marßen so beliebt war.
Er blickte sich um; innen sah der Schuppen weitaus besser aus als draußen, wenn auch etwas ungewöhnlich. Lüttges hatte noch nie so viele Bilder von Radsportlern gesehen, kombiniert mit Fotos von Mittelgebirgslandschaften und Wimpeln von Fußballvereinen, die er allenfalls dem Namen nach kannte. Das Publikum war ziemlich bunt gemischt, aber die meisten Gäste sprachen Französisch. Der durchaus angenehme Duft aus der Küche vermischte sich mit den Rauchschwaden offenkundig ziemlich starker Zigaretten – eine türkische Teestube könnte ihm kaum exotischer vorkommen, dachte er.
Die Wirtin brachte zwei kelchförmige Gläser mit einem dunklen, rötlich-braunen Bier, das von weißem Schaum gekrönt war, und legte zwei Speisekarten auf den Tisch. Lüttges nahm einen kräftigen Schluck und verzog das Gesicht.
Delamotte lachte: „Entschuldigung, ich hätte dich warnen sollen – es ist schon etwas Anderes als das Dunkle, dass du vom Niederrhein kennst.“
Lüttges stimmte zu. Das Bier schmeckte süßlich, fast ein wenig wie Karamell, hatte aber auch bittere und leicht muffige Töne. Skeptisch griff er sich eine der beiden Speisekarten.
„Madame Severine serviert überwiegend authentisch wallonische Küche“, erklärte Delamotte, „und dazu die einzig wirklich genießbaren Fritten in ganz Marßen.“
Lüttges blickte in die Karte; von Gerichten wie Vol au Vent, Moules-frites und Lapin aux pruneaux hatte er noch nie gehört. „Was nimmst du?“, fragte er.
„Fleischbällchen Lütticher Art“, antwortete Delamotte, „in einer süßlichen Sauce mit Zwiebeln, dazu natürlich Fritten.“
Lüttges schüttelte den Kopf, das Bier war ihm schon süßlich genug. „Was verbirgt sich denn hinter dieser Currywurst á la maison?“, wollte er wissen.
Delamotte klärte ihn auf: „Eine von Severines Anleihen von der deutschen Küche – aber Vorsicht, sie serviert sie nicht in Ketchup mit ein bisschen Currypulver, sondern in einer echten, goldbraunen Currysauce. Die ist ziemlich scharf.“
Lüttges grinste breit: „Das macht mir nichts aus. Vor ein paar Wochen hat mein Sohn mich zu einem Thailänder in Altenstein eingeladen – seitdem kann mich nichts Scharfes mehr schocken.“
Als die kräftige Belgierin das nächste Mal an den Tisch kam, gaben die beiden Männer ihre Bestellungen auf.
„Marino hat mir mal gesagt, du hättest nie was von der Auftragskiller-Theorie gehalten“, sagte Lüttges. Delamotte nickte. „Aus welchem Grund?“, fragte der Kommissar.
Delamotte holte aus: „Zunächst einmal: wirklich starke Motive, einen Profikiller anzuheuern, scheinen mir in keinem der Fälle gegeben zu sein – vielleicht mit Ausnahme des Maklers.“
Lüttges verstand ihn – erst der Fall Dorn hatte die Ermittler auf die Idee gebracht.
Delamotte fuhr fort: „Bei Sötenich erscheint mir die Idee extrem weit hergeholt – eine vier Jahre zurückliegende Scheidung als Mordmotiv?“ Der Psychologe blickte kurz nach oben, bevor er fortfuhr: „Und wie sieht es diesbezüglich bei dem zweiten Opfer aus?“
„Noch dünner“, musste Lüttges zugeben.
Delamotte hatte noch einen weiteren, in seinen Augen gewichtigeren Einwand: „Vor allem: nichts von dem, was ich bisher gehört und gesehen habe, lässt mich an einen überlegten Profikiller denken. Die Taten wirken teilweise geplant, ja, vorbereitet – aber nicht wirklich professionell. Drei Morde in ziemlich kurzer Zeit, alle mit der gleichen Waffe – ich glaube nicht, dass ein Profi so vorgehen würde.“
Severine servierte das Essen. Lüttges war angenehm überrascht, die Currysauce war in der Tat sehr scharf, hatte aber gleichzeitig eine gewisse Eleganz. Und die Fritten waren die besten, die er jemals gegessen hatte. Auch Delamottes Fleischklopse sahen sehr gut aus, und weitgehend schweigsam genossen die beiden Männer ihr spätes Mittagessen.
„An anderen Tagen würde ich jetzt noch ein Stück Herver Käse mit Sirup bestellen, aber das möchte ich dir nicht antun“, sagte Delamotte, nachdem Madame Severine die leeren Teller abgeräumt hatte. Lüttges blickte ihn verständnislos an. „Aber ein ander Mal“, ergänzte der Psychologe grinsend und bat die Gastwirtin um die Rechnung.

Das Porträt, das Delamotte in der zweiten Mappe vorfand, verpasste ihm einen schmerzhaften Stich. Das breite, etwas teigige Gesicht versuchte sich an einem Lächeln, aber es lächelte nur der Mund, nicht aber die Augen, die auf ihn einen eher traurigen, verlorenen Eindruck machten. Von Lüttges hatte er erfahren, dass das zweite Opfer, der Versicherungsvertreter Silvio Fischer, zum Zeitpunkt seiner Ermordung 31 Jahre alt gewesen war. Ohne diese Information hätte der Psychologe den jungen Mann auf einige Jahre älter geschätzt.
„Der tödliche Schuss traf Fischer gegen halb Elf – das wissen wir zum einen aus der gerichtsmedizinischen Untersuchung. Außerdem hatte er kurz vorher, um 22:13 Uhr, an einer Tankstelle eine Fertigpizza und zwei Dosen Bier gekauft“, sagte Lüttges. „Davor hatte er, bis kurz vor Zehn, einen späten Termin bei einem Kunden in Baassem gehabt.“
Delamotte ließ die Informationen noch einmal Revue passieren: Versicherungsvertreter, 31 Jahre alt, Single. Ermordet am 4. September, also gut einen Monat nach dem ersten Opfer. Für einen Auftragsmörder, noch dazu einen eigens aus dem Ausland angereisten, erschien ihm diese Spanne zu lang. Andererseits: für einen Serientäter, der gerade erst anfängt, war sie recht kurz.
„Habt Ihr mal überprüft, ob es im Vorfeld schon ähnliche Morde gegeben hat?“, fragte er.
Lüttges antwortete: „Mit der Tatwaffe auf keinen Fall, zumindest nicht in Deutschland. Vergleichbare Fälle gibt es natürlich einige, aber von denen sind die meisten schon aufgeklärt, und bei den wenigen, die dann noch bleiben, passen die Opfer nicht. Da haben wir eigentlich immer einen Bezug zur OK: Drogenhandel, Zuhälterei, dieses ganze Zeug.“
Der Kommissar hielt am Straßenrand und wies auf die blaue Leuchtreklame hin, die trotz einiger Entfernung unübersehbar war: „Das ist die Tankstelle, willst du sie dir ansehen?“ Delamotte schüttelte den Kopf – das konnte noch warten, er wollte direkt zum Tatort.
Gut zehn Minuten später fuhr Lüttges auf einen großen Parkplatz in einer Gegend, die selbst für Beyeler Verhältnisse nicht gerade heimelig wirkte. Das Viertel war bestimmt von Mietskasernen, die nach Delamottes Vermutung aus den Fünfzigern und frühen Sechzigern stammten. In der Ferne sah er eine Flamme – eine der Raffinerien fackelte Gas ab.
„Ziemlicher Kontrast zu Sötenichs Nachbarschaft“, stellte er fest.
„Das kannst du laut sagen“, stimmte Lüttges zu und schaltete den Motor aus.
Vom Parkplatz führten verschiedene Fußwege zu den Mehrfamilienhäusern, von denen die meisten wohl vor nicht allzu langer Zeit einen frischen Anstrich bekommen hatten, was den Eindruck, den die Gegend auf Delamotte hinterließ, aber bestenfalls rudimentär verbesserte. Lüttges ging voraus, auf einen ziemlich schmalen, schattigen Weg zwischen zweien der Häuser. Es gab zwar keinen Baumbewuchs, aber auch nur eine einzige Laterne, und an den dem Weg zugewandten Seiten der beiden Häuser befanden sich nur einige kleine Fenster – Flure oder vielleicht auch WCs, vermutete Delamotte.
„Ist das der Weg, wo ihr das Bonbon gefunden habt?“, fragte er. Lüttges nickte. Delamotte überlegte: wenn das Bonbon vom Uhu stammte, hatte er es wirklich, wie von Sabine Greven vermutet, beim Rückzug vom Tatort verloren? Oder vielleicht schon vorher? Machte das überhaupt einen Unterschied, und wenn ja: welchen? Und warum hatte er es in Papier gewickelt? Delamotte musste das Ding selber mal sehen.
Lüttges riss ihn aus seinen Überlegungen: „Fischer hat seinen Wagen dort vor dem Nebenhaus abgestellt.“ Er zeigte nach rechts, wandte sich dann um: „Danach ist er hier an dem Fußweg vorbeigegangen bis zu dem Haus, in dem sich seine Wohnung befand.“
Delamotte blickte von dem einen Haus zum anderen – sie sahen aus wie Zwillinge, nur die Farbe war unterschiedlich, das eine blassgelb, das andere aquamarin. Vor beiden Häusern gab es eine kleine Rasenfläche. „Wo hat ihn der Schuss getroffen?“, wollte er wissen.
„Direkt vor dem Zugang zum Haus, in den Hinterkopf, der Schütze muss ziemlich genau hier, an der Einmündung des Fußwegs, gestanden haben.“
Delamotte war verblüfft – im Vergleich zu dem Fußweg war die Straße recht gut beleuchtet, von den Fenstern in den Häusern auf der anderen Straßenseite hätte man einen guten Blick auf das Geschehen gehabt. Er fragte: „Und kein Zeuge hat den Mord beobachtet?“
Lüttges verneinte: „Leider nicht. Und auch gefunden wurde die Leiche erst ziemlich spät, gegen halb Zwölf. Einer der Nachbarn betreibt einen Dönerladen unweit von hier, und kam spät von der Arbeit. Der hat Fischer dann auf dem Bürgersteig liegen sehen.“
Delamotte ging die Schritte bis zur Stelle, an der Fischer von der tödlichen Kugel getroffen worden war. Dann drehte er sich um, blickte zu dem Fußweg, an dessen Einmündung der Täter vermutlich gestanden hatte. Lüttges sah, wie der Psychologe sich dem Haus zuwandte, dann dem Gebäude auf der anderen Straßenseite, und dann wieder zum Fußweg schaute – und wiederholt den Kopf schüttelte.
Er kam zurück: „Lass uns wieder zum Parkplatz gehen.“ Auf dem Weg zum Auto blieb Delamotte mehrmals stehen, steckte die linke Hand in die Jackentasche, nahm sie wieder heraus. Noch so ein Tick, dachte Lüttges.
„Fischer war Single – schon immer?“, fragte Delamotte, als sie bereits auf dem Weg zum nächsten Tatort waren.
Lüttges bejahte: „Weder seine Eltern noch sein Vorgesetzter, und das sind die Leute, die ihn am besten kannten, konnten sich an irgendeine Partnerin erinnern. An irgendeinen Partner auch nicht. Deshalb kamen dann ja diese Gerüchte auf, im Zusammenhang mit seinen regelmäßigen Reisen nach Südostasien.“
„Sextourismus?“, fragte Delamotte.
„Mindestens das“, sagte Lüttges.
Delamotte blickte auf: „Spielst du auf Minderjährige an?“
Lüttges erzählte: „Nicht, dass wir irgendeinen ernst zu nehmenden Hinweis darauf hätten. In seiner Wohnung fand sich keinerlei einschlägiges Material – die einzigen Fotos, die wir seinen Reisen zuordnen konnten, zeigten Strände, Blumen, Sonnenuntergänge. Aber als dann nach dem dritten Mord die Auftragskiller-Theorie aufkam – nun ja, ein anderes Motiv für einen Mordauftrag ließ sich bei Fischer nicht ausmachen.“
Delamotte schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie stand Fischer denn beruflich da?“, wollte er wissen. „Ihr habt doch mit seinem Chef gesprochen.“
Lüttges ließ sich etwas Zeit: „Er nannte Fischer einen fleißigen, soliden Verkäufer – was immer das heißen mag. Den Spitzensteuersatz wird er nicht bezahlt haben.“
All das passte in das Bild, das sich Delamotte von Silvio Fischers Leben bis jetzt gemacht hatte – ein ziemlich trauriges Leben, wie er fand. Späte Arbeitsstunden, dann Rückkehr in eine sicherlich eher preiswerte Wohnung, einige einsame Stunden bei Pizza und Bier. Und dann, immer wieder, Fluchten in eine bunte, exotische, bessere Welt.
Im Gegensatz dazu war das Leben des dritten Opfers alles andere als traurig abgelaufen, von seinem abrupten und tragischen Ende einmal abgesehen. Klaus-Dieter Dorn war, wie Delamotte der Mappe und Lüttges‘ Erläuterungen entnehmen konnte, ein leidlich erfolgreicher Immobilienmakler gewesen, liiert mit einer ehemaligen Weitspringerin, die von der Sportredaktion des „Blitz“ vor einigen Jahren mal zur Miss Olympia gekürt worden war. Auch Dorn selber war ein ausgesprochen gutaussehender Mann von 44 Jahren gewesen, dem das dunkelgraue Haar eine Aura von Seriosität verliehen hatte. Er war stellvertretender Vorsitzender der Bezirksversammlung des Stadtbezirks Altensteiner Land gewesen und hatte gute Aussichten auf einen Sitz im Stadtrat gehabt – was laut einem der Mappe beiliegenden Artikel aus der „Marßener Zeitung“ nur ein weiterer Schritt zu noch höheren Weihen gewesen wäre.
Der Uhu hatte ihn am 21. Oktober abends gegen viertel nach Zehn erschossen. Anders als die beiden vorherigen Opfer hatte der Täter Dorn nicht vor dessen Haus, sondern auf einem Parkplatz in der Ortschaft Neringen ermordet, wo Dorn an einer Parteiversammlung teilgenommen hatte. Delamotte wies Lüttges auf diesen Umstand hin.
„Ja, das ist uns damals auch aufgefallen“, bestätigte der Kommissar, „und das war ein Aspekt, der zur Auftragskiller-Theorie geführt hat. Dorn und seine Partnerin lebten in einem ziemlich prächtigen Anwesen – wenn du magst, können wir da auch mal vorbeifahren, es liegt nur ein paar Minuten Fahrt vom Tatort entfernt. Das Haus ist sehr stark gesichert, hohe Zäune, Kameras, Zufahrt nur über ein elektrisch zu öffnendes Tor. Da hätte der Uhu nur mit Schwierigkeiten und einigem Risiko zuschlagen können.“
Die Information passte in Delamottes Überlegungen – der Täter musste seine Opfer schon vorher ausgekundschaftet haben. Doch abermals schien ihm die Zeitspanne zwischen den Morden – in diesem Fall fast sieben Wochen – zu lang für einen Profi.
Lüttges fuhr fort: „Und dann war da diese Verwicklung in den MarRosInvest-Skandal.“ Delamotte erinnerte sich an die Geschichte; Ende der 90er Jahre hatte ein steinreicher Russe aus dem Umfeld des damaligen Präsidenten Jelzin eine Investmentgesellschaft dieses Namens gegründet und verschiedene Immobilien in Marßen aufgekauft. Dorn war nur einer von mehreren ortsansässigen Maklern gewesen, über die die Transaktionen gelaufen waren. Es waren Gerüchte aufgekommen über Geldwäsche, Waffenhandel, sogar über eine Beteiligung der Familie Jelzin selber. Strafrechtlich relevantes war nicht zutage gekommen, der russische Investor hatte sich kurz nach Putins Amtsübernahme in den Westen abgesetzt, und irgendwann war Gras über die Sache gewachsen.
„Manche Kreise in Russland sind ja nicht gerade zimperlich“, sagte Lüttges, „von daher lag der Verdacht schon nahe.“
„Klar, aber wie passten die beiden anderen Opfer da rein?“, fragte Delamotte.
Lüttges guckte ihn gequält an, das Thema war ihm sichtlich unangenehm: „Nun, bei Sötenich ist uns erst mal aufgefallen, dass er Mitglied der gleichen Partei wie Dorn war. Die beiden kannten sich auch flüchtig, Dorn war als Chef seines Bezirksverbandes in der Partei gut vernetzt, besonders in den östlichen Stadtteilen. Und Sötenich saß im Vorstand des Bezirksverbandes Burbach.“
Delamotte warf ein: „Die Umstände seiner Scheidung kamen dann erst später dazu?“
Lüttges nickte: „Ja. Über die Verbindung zu Dorn ließ sich ja nichts Handfestes ermitteln, mit dieser Immobiliengeschichte hatte Sötenich nichts zu tun.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: „Und bei Fischer gab es dann nur diese Spekulationen wegen seiner Reisen.“
Im Westen ging inzwischen die Sonne unter, was an einem klaren Frühlingstag wie diesem die Ortschaft Neringen noch malerischer erscheinen ließ als sie ohnehin schon war. Auf den letzten beiden Kilometern waren Lüttges und Delamotte an mehreren großen Gehöften vorbeigefahren, die verstreut über das Weideland des Stadtbezirks verteilt waren. Auch Neringen selber war streng genommen ein Dorf, noch dazu wie erwähnt ein sehr schönes, mit vielen alten Fachwerk- und Bruchsteinhäusern, die bei besonders gutverdienenden Bewohnern der Stadt sehr begehrt waren.
Delamotte fiel der Beiname ein, den sich Marßen in all seinem Stolz gerne selber gab: Metropole des Westens. Neringen sah nicht mal entfernt nach Metropole aus. Mitte der 60er Jahre hatte der damalige Marßener Oberbürgermeister Gresbach eine Parole ausgegeben: „Die Stadt braucht Raum zum Wachsen.“ Die Landesregierung hatte das ganz ähnlich gesehen, zudem war den Spitzenpolitikern der Eigensinn der vielen kleinen Kommunen eh ein Dorn im Auge gewesen, und so war Marßen 1970 gewaltig vergrößert worden. Die Landkreise Dörrenrath, Altenstein, Rott und Bliesfeld waren per Federstrich eingemeindet worden, ebenso wie das von der chemischen Industrie geprägte Schwabstadt, dessen satte Gewerbesteuern fortan in der Marßener Stadtkasse landeten. Doch Gresbachs Visionen hatten sich in den folgenden Jahrzehnten nicht bewahrheitet. Die Geburtenraten waren genauso zurückgegangen wie das Wirtschaftswachstum, und auch über dreißig Jahre nach der Erweiterung war das Konglomerat aus Stadtvierteln, Städten, Städtchen und Dörfern immer noch nicht zusammengewachsen. Zum Glück, wie Delamotte empfand.
Die kleine Steinbrücke, über die Lüttges den Audi auf den Parkplatz lenkte, überspannte die Siever, die aus dem Mittelgebirge kommend durch mehrere östliche Stadtteile mäanderte, bis sie dann bei Sievermund Teil des größeren Stroms wurde, der Marßen seit Urzeiten prägte. Der Kommissar parkte auf der rechten Seite des Parkplatzes und stieg aus. Delamotte folgte ihm zurück zur Brücke, auf der Lüttges stehen blieb und erklärte: „Hier etwa muss der Täter gestanden haben. Dorns Wagen stand dort drüben, mit dem Heck zur Brücke. Der Schuss traf ihn von der Seite, gerade als er die Fahrertüre öffnen wollte.“
Delamotte ließ das Szenario auf sich wirken – er spürte, dass der Uhu eine gewisse Routine gewonnen hatte. Im Gegensatz zum Parkplatz, der von mehreren Laternen beleuchtet wurde, lag die Brücke im Dunkeln. Die Entfernung war allerdings ein nicht zu vernachlässigender Faktor. „Wenn er Dorn von hier aus präzise getroffen hat, muss der Uhu ein verdammt guter Schütze sein“, äußerte er.
„Passt zu einem Profi“, sagte Lüttges.
„Passt zu jedem, der regelmäßig mit Handfeuerwaffen zu tun hat“, widersprach Delamotte, „das schließt einen nicht geraden kleinen Personenkreis ein – von einschlägigen Kriminellen über Sportschützen bis hin zu Polizisten.“
„Kann man auch so sehen“, bestätigte Lüttges und fuhr fort: „Kurz vor halb Elf wurde Dorn dann gefunden – da war der Täter längst verschwunden. Vermutlich zu Fuß – selber mit dem Wagen nach der Tat über die Brücke zu fahren, wäre ihm wohl zu riskant gewesen. Wenn zufällig jemand vorbeikäme – Autos haben ein Kennzeichen, abendliche Spaziergänger nicht.“
Delamotte stimmte ihm zu, die Annahme machte Sinn.
Auf einen Besuch beim Anwesen des dritten Opfers verzichtete er. Es wurde bereits dunkel, und er wollte in jedem Fall noch den vierten Tatort sehen. Lüttges nahm die Autobahn Vier bis Raggerscheid, dann den Ring bis zum Dreieck Neuheim. Auf dem Weg fragte er Delamotte nach seinem bisherigen Eindruck.
Der Psychologe ließ seinen Gedanken freien Lauf: „Wenn ich die ganze Profikiller-Debatte mal ignoriere, komme ich um die Frage nach einem die Fälle verbindenden Motiv nicht herum. Ein Malermeister, ein Versicherungsvertreter, ein Immobilienmakler: alle drei selbständig. Da endet die Parallele dann aber auch. Dorn: ein Erfolgsmensch, sehr wohlhaben, um nicht zu sagen reich. Sötenich: solide bürgerliche Existenz, angesehen, aktiver Freundeskreis. Fischer: na ja, du hast die Wohngegend ja gesehen. Außer seinen Fernreisen ist da auf den ersten Blick nichts, was bei jemand anderem Neid oder ähnliches auslösen könnte.“
Lüttges warf ein: „Das vierte Opfer war nicht selbständig, aber gut situiert. Und auch bei Versicherungsfritzen denken die meisten doch, die haben ganz gut Kohle. Falls der Täter Fischer also nur flüchtig kannte…“ Er stockte kurz: „Und alle Opfer waren männlich.“
Delamotte erklärte: „Das haben sie mit der Mehrheit aller Mordopfer gemeinsam. Wenn auch nicht mit der Mehrheit der Opfer von Serientätern.“
Nach einer kurzen Gedankenpause widmete er sich den familiären Verhältnissen der Opfer: „Sötenich war geschieden und lebte mit einer neuen Partnerin zusammen.“
Lüttges ergänzte: „Und hatte zwei erwachsene Kinder mit seiner Exfrau.“
Delamotte nahm die Information auf, einen unmittelbaren Erkenntnisgewinn zog er nicht daraus: „Fischer war ewiger Single. Dorn war fest liiert, soweit ich weiß schon seit einigen Jahren – das Pärchen war ja in den Medien ziemlich präsent.“
Lüttges kam erneut auf das vierte Opfer zu sprechen: „Dr. Ernsting war verheiratet und hinterlässt drei Kinder zwischen Sieben und Dreizehn.“ Delamotte verspürte einen Stich. „Fast die ganze Palette“, meinte Lüttges, „auch da keine wirkliche Gemeinsamkeit zwischen den Opfern.“
„Auf jeden Fall ist der Uhu ein sehr guter Schütze“, bemerkte Delamotte, als Lüttges auf die Autobahn Eins abbog.
„Und das lässt dich an einen Kollegen denken“, sagte der Kommissar mit fragendem Tonfall.
Delamotte erklärte: „Ich schließe den Gedanken zumindest nicht aus – ein Kollege, ein früherer Kollege, vielleicht ein Personenschützer. Alles denkbar.“
Lüttges nickte: „Das würde auch erklären, warum ihn nie ein Zeuge gesehen hat. Der Täter weiß, wie man sich unsichtbar macht.“
Delamotte widersprach: „Es gibt auch Leute, die von Natur aus unsichtbar sind. Zeige verschiedenen Leuten ein Foto mit einer Gruppe von Menschen: an manche wird sich jeder im Nachgang erinnern. An andere nicht.“ Er machte eine künstlerische Pause: „Der Uhu könnte genau der Typ auf dem Foto sein, an den sich keiner erinnert.“ Lüttges erinnerte sich an Delamottes Ausführungen in der morgendlichen Besprechung. „Auch in reinen Wohngebieten sind die Straßen nach 22 Uhr nicht menschenleer“, fuhr der Psychologe fort, „Leute bringen noch mal den Müll raus, führen den Hund Gassi, oder kommen spät nach Hause. Wenn du sie fragst, haben sie niemanden gesehen – und das glauben sie auch, denn sie haben niemanden gesehen, der ihnen hätte auffallen müssen.“
„Was mir auf jeden Fall auffällt“, erklärte Delamotte, als sie am Ortsschild der ehemaligen herzoglichen Zollfestung Zievelsburg vorbeikamen, „ist die recht kurze Zeitspanne zwischen den ersten drei Morden. Für einen Serienmörder, der gerade erst anfängt, ist das in der Tat ungewöhnlich.“
„Also könnte er vorher schon gemordet haben“, nahm Lüttges Delamottes Gedanken aus Beyel auf.
„Das wäre denkbar“, stimmte Delamotte zu, „mit einer anderen Waffe, oder im Ausland. Dem sollten wir nachgehen. Oder aber…“ Er sinnierte kurz: „Oder aber, er hat seine Karriere als Serienmörder schon lange in Gedanken vorbereitet.“
Das Malteser-Krankenhaus in Zievelsburg war ein Backsteinbau aus dem späten 19. Jahrhundert, das im Laufe der Jahrzehnte mit Anbauten in verschiedenen Baustilen erweitert worden war. Der Parkplatz, über den Lüttges und Delamotte gingen, lag im Schatten des Altbaus.
Lüttges wies auf eine Parkbucht, die immer noch mit rot-weißem Band abgesperrt war: „Dort wurde Dr. Ernsting erschossen, direkt neben seinem Auto. Wie du bereits gehört hast, gegen Viertel vor Vier in der Früh.“
Delamotte warf ein: „Das passt nicht wirklich zu den drei früheren Morden, wie du bereits in der Besprechung angedeutet hast.“
Lüttges ergänzte: „Das ist nicht die einzige Unstimmigkeit. Dr. Ernstings Aufenthalt dort um diese Zeit war nicht geplant, er war um Viertel nach Drei wegen einer Notfall-OP angerufen worden.“
Delamotte verstand sofort, worauf Lüttges hinauswollte. Er fasste zusammen: „Die drei ersten Morde waren für den Täter unter gewissen Umständen planbar. Sötenich ging fast jeden Montag kegeln. Fischer hatte regelmäßig späte Kundentermine. Ort und Termin der Parteiversammlung von Dorn hätte der Täter mit ein wenig Recherche herausfinden können. Wenn der Uhu seine Opfer im Vorfeld der Morde beobachtet hat – und davon gehe ich aus – konnte er die Taten planen.“
„Fischer könnte er verfolgt haben“, warf Lüttges ein, „und dessen Zwischenhalt an der Tankstelle gab ihm dann die Gelegenheit, vor dem Opfer am späteren Tatort zu sein.“
Delamotte stimmte zu, der Gedanke lag nahe: „Bei Dr. Ernsting war nichts planbar – ich denke nicht, dass der Täter auf gut Glück die Nacht vor dessen Haus verbracht hat, um ihm dann zum Krankenhaus zu folgen. Wo wohnte Dr. Ernsting eigentlich?“
„In Riedenkirchen“, sagte Lüttges.
Delamotte wusste nur, dass diese Gemeinde etwas nördlich vom Marßener Stadtgebiet lag. „Wenn der Täter also nicht wissen konnte, dass das Opfer um diese Zeit an diesem Ort sein würde – er also den Mord nicht planen konnte – dann muss es sich hier um eine spontane Tat handeln. Diese Abweichung ist zu offensichtlich – darüber muss ich nachdenken“, sagte er.

Trotz der späten Stunde traf Delamotte Pesch noch in dessen Büro an. „Setz dich doch“, sagte der rotblonde Hauptkommissar mit einer einladenden Geste. Er wies auf ein Schriftstück, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag: „Das ballistische Gutachten – es war die gleiche Waffe wie in den Fällen des Vorjahres. Zumindest haben wir jetzt Gewissheit.“
Delamotte überlegte: „Das macht es nicht unbedingt einfacher. Manni hat dir bestimmt schon seine Gedanken zu den Unterschieden zwischen Zievelsburg und den anderen Morden mitgeteilt.“
Pesch nickte: „Ganz anderer Zeitpunkt, unvorhersehbare Anwesenheit des Opfers am Tatort – und wie Gustavsson ja erwähnt hat: der Schuss kam von vorne.“
Delamotte wandte ein: „Der letzte Aspekt deutet vielleicht darauf hin, dass der Uhu abgebrühter war als bei den ersten Morden. Wichtiger erscheint mir der zweite Punkt: den Mord in Zievelsburg konnte der Uhu nicht planen.“
Pesch blickte auf: „Was bewegt dich noch?“
Delamotte wiederholte die Punkte, die er Lüttges bereits erklärt hatte.
„Er könnte also schon vorher mal zugeschlagen haben?“, fragte Pesch.
„Ist auf jeden Fall denkbar“, sagte Delamotte, „vielleicht mit einer anderen Waffe. Manni geht der Sache nach.“
„Sehr gut“, bekräftigte Pesch, „und was machen wir mit dieser langen Pause zwischen dem Mord an Dorn und dem an Dr. Ernsting?“
Delamotte zuckte unmerklich mit den Schultern: „Vielleicht das, worauf du Jutta und Niclas angesetzt hast – er war in Haft oder eher noch in der Psychiatrie.“ Er atmete hörbar ein: „Oder etwas hat ihn aufgeschreckt – vielleicht ihr selber. Vielleicht wart ihr schon mal dicht an ihm dran – ein Zeuge, der Nachbar eines Zeugen…“
„Guter Hinweis“, lobte Pesch, „die Frage ist nur, wer kann dem nachgehen?“
Delamotte zögerte einen Moment lang: „Was ist mit Claudio? Der Fall Ortner ist ja so gut wie aufgeklärt, soweit ich weiß.“
Pesch grinste: „Ich dachte mir schon, dass du Marino irgendwann erwähnen würdest, hätte aber nicht so früh damit gerechnet.“
„Du weißt, wie gut ich mit ihm klarkomme“, sagte Delamotte entschuldigend.
„Auf deine etwas verschrobene Art kommst du eigentlich mit jedem klar“, erwiderte Pesch, „sogar mit mir. Das ist schon bewundernswert.“
Delamotte musste lachen.
„Gut, ich werde mir das mit Marino überlegen“, sagte Pesch, „aber erst, nachdem du mir ein vorläufiges Profil vom Uhu geliefert hast.“
„Profile sind immer vorläufig“, belehrte ihn Delamotte, „aber ja, ich werde mir am Wochenende die Unterlagen genauer zu Gemüte führen und wohl auch noch mal den einen oder anderen Kilometer fahren. Also: am Montag bekommst du ein erstes Profil.“
„Am Montag, hm?“ Pesch wirkte etwas unsicher: „Ich bin nicht sicher, ob die Féte am Montag so eine gute Idee ist. Du hattest ja eh noch nicht zugesagt, aber…“
„Dann hast du die Zusage jetzt“, sagte Delamotte mit Nachdruck, „und ja, es ist eine gute Idee, gerade jetzt. Du kennst uns ja: auch bei dir zuhause werden wir viel über den Fall sprechen, aber eben nicht ausschließlich. Und das ist auch gut so, genau das brauchen wir. Wenn du nur noch vom Fall getrieben bist, machst du uns kaputt – dich selbst zuallererst, und das solltest du vermeiden. Dafür wirst du viel zu sehr gebraucht – und das nicht nur hier.“
Pesch wirkte fast etwas gerührt: „OK, hast mich überzeugt. Dann sehen wir uns auf jeden Fall am Montag. Falls vorher was ist: lass es mich einfach wissen.“
Delamotte stand auf und bewegte zum Abschied leicht die Hand: „Dann bis Montag.“ Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um: „Und du solltest langsam auch mal nach Hause fahren.“
Pesch blickte überrascht.
„Das ist ein Befehl, Soldat“, schnarrte Delamotte grinsend.
Pesch lachte schallend, ein dunkles dröhnendes Lachen aus seinem wuchtigen Körper: „Jawoll, Herr Kaleu“, bellte er.
Delamotte nickte ihm lächelnd zu – er lächelte immer noch, als er am Paternoster ankam.

Auf der Heimfahrt dachte er über Alis Angebot nach. Die Schweiz – er war ein einziges Mal dagewesen, ein langes Wochenende mit Sonja am Genfer See, in besseren Zeiten. Delamotte hatte damals noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut sein Geld verdient, und nebenher Patienten in der Psychiatrischen Klinik Grafschaft Altenstein behandelt. Von den Erinnerungen an das Wochenende abgesehen: vieles, was er von der Schweiz hörte, gefiel ihm. Das Land schien in vielen Dingen besser aufgestellt zu sein als sein eigenes, das ihm in den letzten Jahren immer mehr in eine Schieflage zu geraten schien.
Aber so schön und gut funktionierend die Schweiz auch sein mochte: wollte er wirklich dort hin? War es wirklich sein Lebensziel, wohlhabenden Damen aus Lausanne oder Luzern bei der Bewältigung ihrer Kindheitstraumata zu helfen? Ja, Deutschland war in vielerlei Hinsicht nicht wirklich sein Land, Marßen eine Stadt an der er manchmal verzweifelte, und sogar Bliesfeld entsprach ja nicht ernsthaft dem Idealbild, das er sich bisweilen von seinem Geburtsort machte. Und die Arbeit bei der Polizei drohte ihn häufig aufzureiben, und das lag nicht an den Fällen, sondern am System selbst. Doch in Momenten wie diesem, da er wieder mal dazu beitragen konnte, einen „bösen Mann“ zu fangen, spürte er genau, was seine wahre Mission war.

„Hi, ich bin die Britta.“
Delamotte drehte sich nach links, von wo die Stimme gekommen war. Er hatte gerade den Schlüssel in die Wohnungstüre gesteckt.
Die junge Frau stand in der Türe der Nachbarwohnung. Er blickte in ein freundlich lächelndes, schmales Gesicht, das von mittellangen, dunkelroten Haaren gerahmt war. Vermutlich gefärbt, dachte er. Britta Kowallik – so lautete zumindest der Name auf dem Türschild – mochte zwei oder drei Jahre jünger sein als Delamotte selbst. Sie war mittelgroß und trug den in jüngster Zeit bei Frauen seiner Generation so angesagten Schlabberlook: ein weites Sweatshirt und eine ebenfalls etwas zu weit geratene Jeans. Auch Sonja hatte ihre Figur oft unter dieser Art von Kleidung versteckt.
„Ich bin Markus“, stellte er sich etwas unbeholfen vor.
„Markus Delamotte“, sagte Britta, „schöner Name, klingt französisch.“
Delamotte erklärte: „Mein Urgroßvater stammte aus dem Hohen Venn.“
Britta Kowallik nickte, aber Delamotte war sich nicht sicher, ob sie mit dieser Ortsbezeichnung etwas anfangen konnte. „Frau Berthold sagt, du bist bei der Polizei“, stellte Britta lächelnd fest.
„Wer bitte ist Frau Berthold?“, fragte Delamotte.
Britta klärte ihn auf: „Die Frau vom Hausmeister, unten im Erdgeschoss. Wunder dich nicht, die weiß verdammt viel über uns alle. Ihre beste Freundin arbeitet in der Verwaltung von Sterckarm.“
Soviel also zur anonymen Wohnsiedlung, dachte Delamotte.
„Mama, wo bleibst du“, rief eine Kinderstimme aus Brittas Wohnung.
„Ich begrüße gerade unseren neuen Nachbarn, Timmy – kannst ja auch mal ‚Hallo‘ sagen“, antwortete sie.
„Nöö, will ich nicht“, kam die Stimme zurück.
Britta blickte Delamotte entschuldigend an: „Mein Kleiner ist manchmal ein bisschen eigen.“
Delamotte bemühte sich um ein verständnisvolles Lächeln. In den nächsten Minuten stellte er fest, dass Britta Kowallik Frau Berthold durchaus Konkurrenz machen konnte, wenn es um die Hausbewohner ging.
„Die meisten Mieter hier sind ja eher kurz angebunden“, erklärte sie, „aber Nicky und Theo aus dem zweiten Stock sind ganz nett. Die sind auch so in unserem Alter.“
Delamotte musste ein Grinsen unterdrücken – sie sprach also schon von „uns“, als kannten sie sich bereits seit langem.
„Frau Renner“, fuhr sie fort, „das ist die alte Frau in der Wohnung rechts von dir, die ist total schwerhörig. Jetzt wird sie schon im Bett liegen, aber vor einer halben Stunde konnte man ihren Fernseher noch bis auf den Flur hören.“ Sie zeigte den Gang hinunter: „Da hinten am Aufzug wohnt ein Pole, den Namen kann ich mir immer noch nicht merken. Der ist selten zuhause – der ist Bauingenieur oder so was, immer irgendwo auf Baustellen unterwegs.“
„Na, bei mir wird es dann ähnlich sein“, erwiderte Delamotte, „also jetzt nicht schwerhörig, aber eher selten zuhause.“
Britta ließ ein helles, mädchenhaftes Lachen erklingen.
„Wie lange wohnt Ihr denn schon hier?“, fragte Delamotte – ein bisschen Interesse zeigen war ja ein Gebot der Höflichkeit, wie er fand.
„Seit Anfang des Jahres“, antwortete Britta.
Ein paar belanglose Sätze später gelang es ihm, das Gespräch zu beenden, ohne dabei grob zu wirken.
„Und, bist du jetzt bei der Polizei oder nicht?“, wollte Britta wissen, als er die Tür bereits aufgemacht hatte.
„In gewissem Sinne ja“, antwortete er und grinste, während er in seiner Wohnung verschwand. Er ließ die Reisetasche im Korridor stehen, legte die Mappen zu den vier Fällen auf den Schreibtisch im Arbeitszimmer, und ging in die Küche. Der Blick in den Kühlschrank war ein wenig ernüchternd, aber er fand noch ein Baguette zum Aufbacken, das er prompt in den Backofen schob, und einen noch ungeöffneten Pont-l’Évêque. Und im Weinständer erwartete ihn eine Flasche Blaufränkisch aus dem Burgenland.