Lange galt es als verschollen: das Liederalbum, das Felix Mendelssohn Bartholdy 1845 für Jenny Lind zusammenstellte. Nun tauchte es wieder auf und konnte fürs Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erworben werden. Ein höchst interessantes, höchst brisantes Dokument. Denn die Liebe, von der darin gesungen wird, war auch die zwischen Felix Mendelssohn und Jenny Lind.
Sie war nicht wirklich hübsch, aber bezaubernd, die „schwedische Nachtigall“ Jenny Lind, aber als Künstlerin wie als Frau muss sie eine ungeheuer starke Anziehungskraft gehabt haben. 1820 in Stockholm geboren, begann sie ihre Sänger-Karriere in der Heimat, setzte sie in Paris fort und eroberte Nordeuropa von Helsinki bis Kopenhagen. Dort hat sich Hans Christian Andersen unglücklich in sie verliebt, in dessen „Märchen meines Lebens“ sie Eingang in die Weltliteratur der Romantik gefunden hat und in dessen Märchen „Der Kaiser und die Nachtigall“ ihr ein Denkmal gesetzt wurde. Sie ging nun nach Dresden, lernte dort Deutsch und nahm – nunmehr bereits ein Star – ein Engagement an die Berliner Oper an.
Heiligabend und eine heimliche Liebe
In Berlin lernte sie im Herbst 1844 Felix Mendelssohn Bartholdy kennen. Für 4. Dezember 1845 lud Mendelssohn sie zu einem Konzert in das Leipziger Gewandhaus und zu einem ein- oder zweiwöchigen Aufenthalt in Leipzig ein. Dass sich zwischen beiden Gefühle entwickelt hatten, blieb niemandem verborgen, und dementsprechend gespannt war das Verhältnis von Mendelssohns Gattin Cécile zu Jenny Lind. Aber in der damaligen Öffentlichkeit wie in den alten und neuen Mendelssohn-Biographien war und ist immer nur davon die Rede, dass die gefeierte Sängerin den elf Jahre älteren Komponisten schwärmerisch geliebt habe, dieser aber standhaft geblieben sei und weiterhin nur seiner Kunst gelebt habe. Man wusste zwar, dass er ihr zum Weihnachtsfest 1845 ein Liederalbum widmete – in der von einer der beiden Töchter Jenny Linds 1926 herausgegebenen Biographie Jenny Linds sind zwei Abbildungen davon wiedergegeben.
Das Album galt aber als verloren. Solange, bis es vor kurzem dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde zum Kauf angeboten wurde und dank einer Mäzenin erworben werden konnte. Es ist mit 24. Dezember 1845 datiert, trägt auf dem vorderen und hinteren Deckel ein Aquarell Mendelssohns und enthält sieben Lieder aus Opus 19, 71, 86 und 99, deren Auswahl und Zusammenstellung vielsagend ist. Sie handeln vom Geständnis einer Liebe, von Hoffen, Angst, Ringen, Verzicht und schmerzvoller Resignation. Die Lieder sind in anderen Zusammenhängen bekannt, die Zusammenstellung in diesem Album macht sie zu einem Zyklus von einzigartiger Aussage.
Ein neues Leben in der Neuen Welt?
Mendelssohn konzertierte nach dieser Weihnachtsgabe von 1845 weiter mit Jenny Lind, machte mit ihr (in Begleitung einer Gouvernante) zwei Rheinfahrten, setzte den Sopran-Part im „Elias“ für ihre Stimme und schrieb ihr vertraulich vom innerlich ersehnten Rückzug aus dem öffentlichen Leben. 1845 gestand er im Begleitbrief zum übersandten Liederalbum noch schwärmerisch: „Aufrichtiger und herzlicher kann es keiner mit Ihnen meinen“, 1847 erklärte er ihr in einem Brief seine Liebe und bat sie, mit ihm nach Amerika zu gehen, um dort gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Die mit ihren Gefühlen anderwärtig beschäftigte Jenny Lind – nun auch von Frédéric Chopin verehrt, dem sie erklärte, dass sie ihn nicht heiraten werde – lehnte ab. Im April traf Mendelssohn zum letzten Mal mit ihr in London zusammen. Mit Todesahnungen verließ Mendelssohn die Stadt – und flüchtete in die Musik.
Die für Jenny Lind bestimmte Oper „Loreley“ über die Legende von dem Mädchen, das wegen unerwiderter Liebe Selbstmord begeht, ließ er zwar unvollendet, aber er schrieb im September das tiefe Qual verkündende Streichquartett in f-Moll, in dem die Öffentlichkeit allerdings ein Requiem für seine Schwester Fanny sah. Im Oktober erlitt er mehrfache ernste „Nervenanfälle“, am 1. und 3. November kam es zu zwei Gehirnschlägen, am 4. November 1847 starb Mendelssohn in Leipzig. Bald tauchte das Gerücht auf, dass er wegen Jenny Lind an gebrochenem Herzen gestorben sei. Da die Erkrankung Mendelssohns nicht recht zu definieren ist, lässt sich bis heute der Verdacht psychosomatischer Zusammenhänge nicht aus der Welt schaffen.
Auf 100 Jahre verschlossen
Jenny Lind war über Mendelssohns Tod erschüttert. Sie erklärte, dass er der einzige Mensch gewesen sei, der ihrer Seele Erfüllung gebracht habe, und „kaum dass ich ihn gefunden habe, habe ich ihn auch schon wieder verloren“. Sie nahm keine neuen Bühnenengagements mehr an und war seit 1849 nur mehr als Konzertsängerin tätig. In diesem Jahr hat sie auch eine Mendelssohn-Stipendien-Stiftung errichtet. 1852 heiratete sie den Pianisten Otto Goldschmidt, der 1896 in der Londoner Royal Academy of Music Papiere zur Biographie seiner Frau hinterlegte – mit der Auflage, dass diese dort nach hundert Jahren geöffnet würden. Darunter soll sich auch Mendelssohns Brief an Jenny Lind aus dem Jahr 1847 befunden haben, in dem er sie bittet, mit ihm nach Amerika zu gehen.
Als die musikalische Welt 1996 darauf wartete, dass die Dokumente zugänglich gemacht würden, wiegelten die Verantwortlichen der Royal Academy of Music ab.
The untold story
Clive Brown ging in seinem 2003 erschienen Buch „A portrait of Mendelssohn“ ausführlich auf all das ein. Im vergangenen Jahr – wegen des zweihundertsten Geburtstages des Komponisten ein Mendelssohn-Jahr – nahmen sich die Londoner Medien des Themas an. „Conspiracy of silence“ titelte „The Independent“; „Mendelssohn and Jenny Lind: the untold story“ war der BBC ein eigenes Programm wert. Doch die Verantwortlichen der Royal Academy of Music lehnten weiterhin eine Veröffentlichung ab und bestätigten lediglich, dass Otto Goldschmidt in der von ihm publizierten Biographie seiner Frau manches verfälscht und geschönt und auch in die von ihm übergebenen schriftlichen Dokumente eingegriffen habe.
Laut Sir Curtis Price, bis 2008 Professor und lange Jahre Principal der Royal Academy of Music, soll Mendelssohns Liebeserklärung an Jenny Lind aus dem Jahr 1847 nicht vorhanden und schon von Otto Goldschmidt vernichtet worden sein; gleichzeitig bestätigt er, dass es ein Papier von Otto Goldschmidt gibt, das den Inhalt dieses Briefes außer Frage stellt. Solange diese Papiere nicht vollständig zugänglich sind, entstehen jedenfalls immer neue Gerüchte, wie zuletzt solche, dass Mendelssohn Jenny Lind mit dem Selbstmord gedroht habe, wenn sie ihn zurückweisen sollte, oder dass sein Tod auf eine wegen dieser Zurückweisung von selbstmörderischer Absicht bestimmte Selbstaufgabe zurückzuführen sei.
Einzigartiges Dokument
Jedenfalls ist heute das einzige greifbare Dokument zur Beziehung zwischen Mendelssohn und Jenny Lind dieses nun wieder aufgetauchte Liederalbum und sein darin enthaltener Liederzyklus. Im Rahmen unserer Reihe „Nun klingen sie wieder“ wird er am 19. April im Brahms-Saal erstmals zu hören sein, mit Ellen van Lier und Malcolm Bilson, der uns den Weg zu diesem Album gewiesen hat. Es ist ein menschlich berührendes und musikalisch hoch bedeutendes Dokument, denn eine derartig nachvollziehbare zyklische Zusammenstellung von Liedern aus einem gegebenen biographisch fassbaren Anlass hat es zuvor in der Musikgeschichte noch nicht gegeben.
Zuletzt befand es sich bei Nachfahren Mendelssohns, was bedeutet, dass es als besonders sensibles Dokument von den Nachfahren Jenny Linds zur Familie Mendelssohn zurückgekehrt ist. Der Cellist Steven Isserlis, ein entfernter Nachfahre Mendelssohns, hat sich im Übrigen zu all den Fragen und Gerüchten um die Beziehung zwischen Mendelssohn und Lind sehr musikalisch geäußert. „Everyone loves to think of him as the happy, fulfilled composer. But there’s a tragic side to his late works. I think he experienced a fundamental shift of personality in that last year.”
Auf Liebesspuren nach Wien?
Dass dieses Album nun im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde zugänglich geworden ist, lässt an beziehungsvolle historische Reminiszenzen anknüpfen. Als Jenny Lind im Jänner 1847 ein Engagement am Theater an der Wien antrat, führte Mendelssohn mit Briefen seine „teure Freundin“ bei Wiener Bekannten ein, allen voran bei Aloys Fuchs, Hofbeamter und Mitarbeiter im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Fuchs scheint gewusst zu haben, was die Lind für Mendelssohn bedeutet. Die Gesellschaft hatte den bereits 1837 zum Ehrenmitglied ernannten Komponisten schon mehrmals vergeblich nach Wien eingeladen, um hier eigene Werke zu dirigieren. Nun ging sofort ein neuerlicher Einladungsbrief an Mendelssohn – und er nahm wie erwartet an. Für Herbst 1847 wurden zwei Konzerttermine fixiert. Jenny Lind war allerdings schon Ende Februar wieder von Wien abgereist, und die Konzerte am 14. und 16. November dirigierte Mendelssohn nicht mehr. Sie wurden zu einer Trauerfeier für den im Alter von 38 Jahren verstorbenen Komponisten.
|
Sign-in to write a comment.